Zeuge der Menschheitsgeschichte – Der älteste Tempel Pekings

Seit seiner Entstehung um 307 n. Chr. hat die Tanzhe-Tempelanlage sehr wechselreiche Jahrhundete überstanden. Dies ist wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass er in seiner Geschichte zum „Tempel der Kaiser“ avancierte und sich ganz unterschiedliche Menschen immer wieder für seinen Schutz und Erhalt einsetzten¹.

Eingang des Tanzhe-Tempels ausserhalb Pekings, Foto: Wikipedia (https://www.flickr.com/people/8189782@N08/)

Vorwort

Während der Recherche zum Artikel tauchte mehrere Male ein und dasselbe Zitat auf: „Zuerst gab es den Tanzhe-Tempel, dann gab es Peking“. Was möchte das Zitat ausdrücken? Es könnte eine Rangfolge klarstellen wollen, zuerst der Tempel (den Himmel), dann die Kaiserstadt (Sohn des Himmels).

Die Geschichte des Tempels, von der dieser Artikel handelt, ist aus zwei längeren Studien entnommen worden. Diese sind überraschenderweise eher emotionaler Art und mit punktuellem Fokus auf den Tempel verfasst worden. Dem Leser werden nicht alle Fakten und Hintergründe zu den einzelnen geschichtlichen Ereignissen aufgeschlüsselt. Beide Studien haben gemein, dass sie eine Idee vermitteln: Der ´Tanzhe Si` kann auf eine mehr als 1500-jährige Geschichte zurückblicken, weil sich aussergewöhnliche Menschen aus unterschiedlichen Beweggründen um ihn gekümmert haben. Sei es, dass sie ihn gepflegt haben oder durch das Aussprechen von Befehlen, seine Existenz in die Zukunft hinein sicherten. Neben den früheren Kaisern, den Äbten und Mönchen waren dies unter anderem auch Parteifunktionäre und Befehlshaber der japanischen Armee. Seit der Tempel öffentlich ist, konnte dieser die Zuneigung vieler Besucher und Besucherinnen gewinnen. Auch die Nachfrage nach etwas bewirkt, oft, dass es gepflegt und erhalten bleibt.

Falls Sie jetzt gerne sofort den Tempel in Augenschein genommen hätten, so soll dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Es ist wirklich nur ein Katzensprung. Schauen Sie sich um hier oder hier.
(Es öffnet sich Google Streetview, mit der Maus können Sie das Bild in alle Richtungen bewegen. )

¹ „Sites, saints, and sights at the Tanzhe Monastery“ von Susan Paquin 1998

Der Anfang der Geschichte

Die Tempelanlage befindet sich heute knappe 40 Kilometer von der Stadtmitte Pekings entfernt. Erbaut wurde sie um 307 n. Chr. (Jin-Dynastie 265–420 n. Chr.) am Hang des Berges Tanzhe Shan. Bis zur Tang-Dynastie (ab 618 n. Chr.) erlebte der Tempel mal bessere, mal schlechtere Zeiten, immer abhängig davon, wer an der Macht war und wie derjenige mit dem Tempel umzugehen pflegte. Zuletzt verwaiste und zerfiel er zusehends, bis Wu Zetian, die von 690-705 n. Chr. regierte, die Wende einleitete. Eine Restauration erlaubte die Wiederaufnahme des Tempels als buddhistisches Zentrum. Nach dem Tod Wu Zetians folgte erneut eine Phase, in welcher der Buddhismus zurückgedrängt und auch wertvolle Schriften vernichtet wurden. Die Mönche im Tanzhe Tempel passten sich der Situation an, indem sie fortan die weniger von Schriften abhängigen Inhalte der Zen-Lehre, anstatt die der Huayan-Schule unterrichteten. Es dauerte nicht lange und der Tanzhe Si war zum Haupttempel der Zen-Schule geworden.

Exkurs: Wer war Wu Zetian?

Wu Zetian kam als Kind an den kaiserlichen Hof und wurde als Erwachsene die Konkubine mehrerer Kaiser. Sie arbeitete sich hoch, bis sie die Hauptfrau von Kaiser Gaozong wurde. Als Kaiserin begann sie im Namen ihres Mannes zu handeln, sich mit ihr wohlgesonnenen Unterstützer zu umgeben und Konkurrenten auszuschalten. Als ihr Mann starb sorgte sie dafür, dass ihr Sohn den Thron besteigen konnte. Sie hatte dafür Sorge getragen, dass andere Prinzen vergiftet oder ins Exil geschickt wurden.

Schon bald verdrängte sie ihre Söhne und nahm das Zepter selbst in die Hand. Gegen den Willen des Hofstaats wurde die ehemalige Konkubine und Hauptfrau Kaiserin. Wu Zetian war eine aussergewöhnliche Frau, attraktiv, schlau, willensstark, eine ausgezeichnete Menschenkennerin und Strategin. Um ihre Machtposition zu sichern, unterdrückte sie mächtige Beamte und bevorzugte dafür Beamte niederen Ranges. Sie sorgte dafür, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung (nach Nahrung, sozialem Aufstieg und Unterstützung) befriedigt wurden. Sie vergab grosszügig Gelder, Beförderungen und Gehaltserhöhungen. Da sie sich legitimieren musste, versuchte sie sich dem Volk gegenüber als Gottheit, oder als von den Schriften Angekündigte zu etablieren. Sie investierte in buddhistische Tempel und gab bei den Longmen Grotten einen gigantischen Maitreya-Buddha aus Stein in Auftrag.

Durch ihre Politik zerfiel am Hofe zusehends die Moral. Korruption und Bestechung griffen um sich. Wu Zetian verlor in späteren Jahren die Gesundheit und auch die Kontrolle. Sie war bettlägerig und liess zwei Minister die Geschicke am Hofe bestimmen. Diese begannen den Hof zu tyrannisieren, bis zuletzt die Palastwache auf Geheiss ihres älteren Sohnes die beiden Minister erschiessen liess und die Herrschaft übernahm. Wu Zetian trat am Folgetag von ihrem Amt zurück und starb nur wenig später eines natürlichen Todes.

Der Aufstieg des Tanzhe Si zum Kaisertempel

Kaiser Xianzong (805-820 n. Chr.) machte den Anfang. Er besuchte als Erster den Tempel persönlich und spendete auch Geld für seinen Ausbau. Mit diesem kaiserlichen Besuch wurde der Grundstein für eine glanzvolle und gesicherte Existenz für den Tanzhe Si gelegt. Unter der Yuan-Dynastie (1279-1368 n. Chr.) zum Beispiel, war der Buddhismus eine der führenden Religionen neben dem Taoismus und Konfuzianismus. Die Tochter Kublai Kahns, Prinzessin Miaoyan wurde eine Nonne und lebte im Tanzhe-Tempel.

Der Begründer der Ming-Dynastie (1368-1434 n. Chr.), Kaiser Hongwu, stammte ursprünglich aus ärmlichen Verhältnissen und wuchs als Kind zeitweise in einem buddhistischen Kloster auf. Unter ihm und den folgenden Ming-Herrschern wurde der Tempel mehrfach ausgebaut und vergrößert.

Nichts änderte sich für den ´Drachensee und Maulbeerbaum-Tempel`während der Herrschaft der Qing-Dynastie (1644-1911). Kaiser Kangxi ließ den Tanzhe-Tempel wieder weiter verschönern, und auch seine Nachfolger kümmerten sich um den Erhalt der Tempelanlage, hinterließen Stelen mit Inschriften, pflanzten Bäume, schrieben Gedichte und liebten es, den Tempel für einige Tage zu besuchen.

Dunkle Wolken am Horizont

Gegen Ende der Qing-Dynastie kamen turbulente Zeiten auf. Nichts würde mehr so sein, wie es früher einmal war. Das bisher selbstbewusste und sich eher abschottende Reich wurde von den westlichen Mächten zur Marktöffnung gezwungen. Kriege und Unruhen destabilisierten die Macht der Kaiser und das Lebensgefühl der Chinesen. Hastige Versuche, Reformen durchzuführen, scheiterten. Die Lösung schien in der Anpassung an westliche Maßstäbe zu sein: Investitionen in Bildung, Technologie und Industrialisierung sollten es dem Land ermöglichen, aufzuholen und die Souveränität wieder herstellen zu können. Kein Preis war dafür zu hoch. „Zerstört Tempel und baut Schulen“ war einer der Slogans² der Kampagnen, welche die Reformation alter Strukturen in der Politik, den Traditionen und Religionen, durch Wissenschaft, Atheismus und Fortschrittsglaube ersetzt sehen wollten.

² Goossaert, Vincent. “1898: The Beginning of the End for Chinese Religion?” The Journal of Asian Studies, vol. 65, no. 2, 2006, pp. 307–335. JSTOR, www.jstor.org/stable/25076034.

Das Schicksal der Tempelanlagen seit dem Niedergang der Qing-Dynastie

Die Umgestaltung der Gesellschaft hatte ernsthafte Folgen für die Mönche und ihre Tempel. Sie wurden nun mit Steuern und Gebühren belastet oder gänzlich enteignet. Durch die unsichere rechtliche Lage sahen Menschen sich berechtigt, Tempelanlagen zu plündern und zu zerstören. Dabei kamen auch Mönche zu Tode. Die Studie von Yuxi Yan³ zitiert einen Historiker namens Ian Johnson, der aussagte, dass bereits die Hälfte aller existierenden Tempel einer Umnutzung zugeführt oder zerstört worden waren, bevor die Kommunisten an die Macht kamen.

Unser Tanzhe Si blieb von derartigen Übergriffen beinahe gänzlich verschont. Das war einerseits seiner isolierten Lage geschuldet, als auch seinem Ruf als Tempel der Kaiser. Es waren jedoch die Äbte, zuerst Abt Ciyun und dann sein Nachfolger Chunyue, die beide, modern gesagt, dank gutem Networking und Marketing, die Unversehrtheit des Tempels bewirken konnten. Denn auch nachdem die Ära der Dynastien geendet hatte, pflegten sie die Kontakte zu den nachfolgenden und wechselnden Machthabern. Diese hielten sich ebenso gerne im Tanzhe Si auf oder lebten sogar zeitweise dort.

Vielleicht war es auch pures Glück. Ein alter Offizier aus der Qing-Dynastie lud japanische Freunde in den Tempel ein und veröffentlichte auch einen Gedichtband über den Tempel in Japan. Somit wurde der Tanzhe Si auch in Japan bekannt. Der nachfolgende Abt von Chunyue hiess Maolin. Er war mit einigen japanischen Armeeführern befreundet. So kam es, dass während der Kriege zwischen China und Japan, die Japaner die Mönche mit Waffen versorgten, damit sie sich verteidigen konnten. Keine einzige Bombe fiel auf den Tanzhe Si, wohl aber auf den nur wenige Kilometer entfernten kleineren Tempel Jietai Si.

³ Yan Yuxi, „The Last 100 Years at Beijing’s Tanzhe Buddhist Temple in Light of Modern China’s Political and Religious Upheavals“ (2016)

Niedergang und …

Nach dem zweiten Krieg mit Japan zerfiel die kurze Partnerschaft zwischen den Kommunisten und den Nationalisten, die sich bald auf die Insel Taiwan zurückzogen. 1949 kam die KPCh an die Macht und begann, die Gesellschaft nach marxistisch-leninistischen Idealen umzuformen. Abt Maolin, der die Nationalisten unterstützt hatte, wurde gezwungen, den Tanzhe Si aufzugeben. Land und Vermögen wurden sofort konfisziert. Im Zuge der „Landreform-„Kampagne wurden Teile des Grunds an arme Bauern zur Bewirtschaftung gegeben. Vielen Mönchen blieb nichts weiter übrig, als selbst Bauern zu werden, um überleben zu können.

Die Tempelanlage selbst wurde nun vom Pekinger Büro für Parkanlagen und Wälder übernommen und als Parkanlage für Besucher und Reisegruppen umfunktioniert. Der ehemalige Abt Maolin durfte in den Tempel zurückkehren, aber er war nicht länger Eigentümer des Tempels und der Tempel war kein Ort der Religion mehr. Somit war der Tempel zu einem Touristenort geworden. Zeitweise wurde im Tanzhe Si eine Klinik für Tuberkulosekranke eingerichtet.

Bei der nächsten Reform „Der Große Sprung nach vorn“ (Great Leap forward) entstand eine arge Hungersnot. Die wenigen Mönche, die noch im Tempel lebten, konnten der Bevölkerung nicht wie in früheren Zeiten helfen. Sie hatten zwar noch die großen Töpfe, verfügten aber weder über Geld, noch waren ausreichend Nahrungsmittel vorhanden, die nötig gewesen wären, um Speisen für die Hilfesuchenden zuzubereiten.

Der Höhepunkt war dann die „Kulturrevolution“, die der traditionellen chinesischen Kultur und den Seelen der Menschen unsagbares Leid zufügte. Statuen, Tempel, Relikte, Artefakte und vieles mehr wurde in grossen Mengen unwiderbringlich zerstört. Der Tanzhe Si begann zu zerfallen. Die Roten Garden Maos wagten es, die Buddha-Statuen, Tafeln und Stelen zu zerschlagen. Sogar der Gebetsstein von Prinzessin Miaoyan wurde beschädigt. Und doch: wer nicht bei der Zerstörung mithalf, war selbst in Gefahr, als Abweichler verhaftet und gefoltert zu werden. Abt Maolin sah sich gezwungen, den Tempel endgültig zu verlassen. Der Tempel wurde geschlossen und fiel für ein gutes Jahrzehnt in einen Dornröschenschlaf.

… Wiederauferstehung

Der Schrecken der Kulturrevolution endete erst mit dem Tod Maos. Ab Mitte 1977 getrauten sich die Menschen wieder Musik von Beethoven oder Mozart zu spielen. Auch die Gedichte der grossen Tang-Poeten Li Bai und Du Fu konnten wieder gefahrlos gelesen werden. Mit Deng Xiaoping (1978-1992) begannen die wirtschaftlichen Reformen, welche vielen Chinesen über die Jahre einen gehobeneren Lebensstandard ermöglichten. Im Gleichschritt mit der wirtschaftlichen Besserstellung erwachte auch das Interesse an kulturellen und religiösen Aktivitäten.

Dank diesem Interesse erlebte der Tanzhe Si eine Wiedergeburt. Von 1978 bis 1980 investierte die Kommunistische Partei mehrere Millionen Yuan in die Restauration. Am 1. August 1980 wurde der Tempel wiedereröffnet. Es heißt, es soll am Wiedereröffnungstag eine Autokolonne von 3-4 Kilometern Länge gegeben haben und es hätten ca. 40.000 Menschen die Tempelanlage besucht.

Half a Day in Tanzhe Tempel – Quelle: YouTube http://youtu.be/zDjkfSgberU

Der Tempel war nicht nur Ausflugsziel, sondern auch Unterhaltungs- und Rückzugsort für Parteifunktionäre und deren Gäste. Dank diesem Umstand wurde weiterhin in den Erhalt und in die Verschönerung der Tempelanlage investiert. Noch während der Regierungszeit Deng Xiaopings soll wieder eine größere Anzahl Mönche in den Tempel eingezogen sein. Das religiöse Tempelleben durfte unter dem wachsamen Auge der Partei wieder stattfinden. „Menschen dürfen schließlich Buddhisten sein, aber sie müssen zuallererst kommunistische Buddhisten sein”⁴. Dieses Zitat verrät, wie es um die Religionen im kommunistischen China – damals und heute – gestellt ist.

⁴ Yan Yuxi, „The Last 100 Years at Beijing’s Tanzhe Buddhist Temple in Light of Modern China’s Political and Religious Upheavals“ (2016)

Quellen für diesen Bericht:
Yan, Yuxi, „The Last 100 Years at Beijing’s Tanzhe Buddhist Temple in Light of Modern China’s Political and Religious Upheavals“ (2016). Senior Theses and Capstone Projects. 60. Link: https://scholar.dominican.edu/senior-theses/60
This Senior Thesis is brought to you for free and open access by the Student Scholarship at Dominican Scholar. It has been accepted for inclusion in Senior Theses and Capstone Projects by an authorized administrator of Dominican Scholar. For more information, please contact michael.pujals@dominican.edu.

Ein weitere Schrift die den Tanzhesi von 1600 an beleuchtet und warum er bis heute überlebt hat. „Sites, saints, and sights at the Tanzhe Monastery“Von Susan Naquin, Cahiers d’Extrême-Asie  Année 1998  10  pp. 183-211
https://www.persee.fr/doc/asie_0766-1177_1998_num_10_1_1133

Mehr über die einschneidenden Reformen im China des 19. und 20. Jahrhunderts bei:
Goossaert, Vincent. “1898: The Beginning of the End for Chinese Religion?” The Journal of Asian Studies, vol. 65, no. 2, 2006, pp. 307–335. JSTOR, www.jstor.org/stable/25076034. Accessed 19 Mar. 2020.

Wu Zetian: Ann Paludan, Chronicle of the Chinese Emperors, Thames & Hudson Verlag, 2005, Seiten 98-101
Ein kurzes Video zu Wu Zetian ist zu finden auf: https://www.arte.tv/de/videos/094282-000-A/wu-zetian-das-chinesische-kaiserreich-und-seine-eiserne-lady/

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