Die Kultivierungsgeschichte von Buddha Milarepa – Teil VII

Rechungpa fragte den Ehrenwerten Milarepa: „Meister, seid Ihr Meister Marpas Anweisung gefolgt und habt dort ein paar Jahre gelebt?“

Der Ehrenwerte antwortete: „Ich bin nicht so lange geblieben. Nachdem ich dort eine Weile gelebt hatte, kehrte ich in meine Heimatstadt zurück. Ich werde dir sagen, warum ich nach Hause gegangen bin.

Während der Meditation in der Einsamkeit praktizierte ich fleißig in der Stille und machte große Fortschritte. Ich habe nie geschlafen, aber eines Morgens wurde ich schläfrig und schlief ein. Dann träumte ich, dass ich in meine Heimat in Kyangatsa zurückgekehrt war. Ich sah, dass mein Haus, das mit den vier Säulen und den acht Balken, verfallen war wie das Ohr eines alten Esels. Das wertvollste Erbstück der Familie, die Schrift des Maharatnakuta Sutras, war durchnässt und vom durchgesickerten Regenwasser heillos zerfleddert. Das Land Orma Dreieck war mit Brombeersträuchern und kriechendem Unkraut bedeckt. Meine Mutter war gestorben und meine Schwester zu einer Bettlerin geworden, die in einer fernen Region herumwanderte. Als ich an die Tragödien dachte, die ich seit meiner Kindheit erlebt hatte und daran, dass ich meine Mutter seit so vielen Jahren nicht gesehen hatte, schmerzte mein Herz zutiefst. Weinend rief ich: ‚Mutter! Meine Schwester Peta!‘ Ich wachte weinend auf und meine Kleidung war nass vor Tränen. Wenn ich an meine Mutter dachte, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten und beschloss, sie zu besuchen.

Im Morgengrauen brach ich entschlossen den Eingang der Höhle auf und ging in das Schlafzimmer des Meister. Ich wollte ihn um Erlaubnis bitten, in meine Heimatstadt zurückzukehren. Der Meister schlief, so dass ich vor seinem Bett niederkniete, um es ihm zu erklären.

Der Meister wachte auf.

Damals schien das Morgenlicht durch das Fenster und schien auf den Kopf von Meister Marpa auf dem Kissen. Währenddessen kam seine Frau mit dem Frühstück herein. Meister Marpa fragte: ‚Sohn, warum hast du die Meditation unterbrochen? War es ein störender Dämon? Geh schnell zurück, um in Ruhe weiterzupraktizieren!‘

Ich erzählte dem Meister von dem Traum und wie sehr ich an meine Mutter dachte.

Der Meister sagte: ‚Sohn, als du das erste Mal hierher kamst, sagtest du, dass du dir keine Sorgen mehr um deine Familie und die Dorfbewohner machen würdest. Zudem hast du vor so vielen Jahren deine Heimatstadt verlassen. Auch wenn du zurückgehen sollest, kannst du deine Mutter womöglich nicht sehen. Was andere Menschen betrifft, so bin ich mir nicht sicher, ob du ihnen begegnen kannst. Du hast so viele Jahre in Ü-Tsang gelebt und danach einige Jahre bei mir zu Hause. Wenn du entschlossen bist zurückzugehen, werde ich dich gehen lassen. Du hast erwähnt, dass du in dein Dorf zurückkehren und später wiederkommen willst. Du magst so denken, aber es wird wahrscheinlich nicht funktionieren. Als du reinkamst, habe ich geschlafen. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir uns in diesem Leben nicht mehr sehen werden!

Aber wie auch immer, der Sonnenschein erhellt mein Zimmer, das bedeutet, dein Dharma wird in zehn Richtungen leuchten, wie die Morgensonne. Tatsächlich war der obere Teil meines Kopfes in der Sonne, was bedeutet, dass dein Dharma sich verbreiten und gedeihen wird. Zufällig kam Dakmema mit Essen herein, was darauf hinweist, dass du fähig sein solltest, dich von Samaya (Gelübde oder Gebote) zu ernähren.

Ach! Es scheint, als hätte ich keine andere Wahl, als dich gehen zu lassen. Dakmema, bitte bereite eine gute Opfergabe vor!‘

Nachdem die Frau des Meisters die Opfergabe vorbereitet hatte, stellte der Meister ein Mandala auf und führte Abhisheka mit dem von den Dakinis mündlich gelehrten Reifungspfad durch. Er vermittelte mir auch all die gänzlich unbekannten Verse über die Erlösung.

Der Meister sagte: ‚Oh, diese Verse waren die Prophezeiung des Ehrenwerten Naropa und er bat mich, sie an dich weiterzugeben. Du sollst den Prophezeiungen der Dakinis folgen und die Verse bis zur 13. Generation an einen Schüler mit der besten angeborenen Grundlage vererben.

Sollte jemand dieses Dharma für Geld, Ruhm, Ansehen oder persönliche Vorteile lehren, ist das ein Verstoß gegen die Anweisungen der Dakinis. Du solltest diese mündlich überlieferten Lehren besonders wertschätzen und gemäß diesen Versen praktizieren. Wenn du einem Schüler mit sehr guter angeborener Grundlage begegnest, auch wenn er arm ist und keine materiellen Güter besitzt, die als Opfergaben dienen könnten, solltest du ihm dennoch Abhisheka und die Verse geben und ihm helfen, damit er das Dharma verbreiten kann. In Bezug auf alle Qualen, die Meister Tilopa dem Meister Naropa bereitet hat oder all die verschiedenen Leiden, die ich dir zugefügt habe, so haben diese Methoden keinen Nutzen für Schüler mit einer schlechten angeborenen Grundlage. Bitte verwende sie daher nicht mehr. Jetzt hat sich sogar in Indien die Praxis des Dharma abgeschwächt. Diese sehr strengen Methoden sind also in Tibet nicht mehr angemessen.

Es gibt insgesamt neun Sätze von Dakini-Dharma und ich habe dir vier davon beigebracht. Was die restlichen fünf betrifft, so wird einer meiner Schüler später nach Indien reisen und sie von dem Schülern Naropas lernen. Sie werden den Lebewesen enorm zugutekommen und du solltest danach streben, dieses Dharma zu suchen.

Du denkst vielleicht: ‚Ich bin sehr arm und habe keine Opfergaben. Wird mir der Meister alle Verse beibringen?‘ Bitte hege solche Zweifel nicht. Weißt du, ich achte überhaupt nicht auf materielle Opfergaben. Wenn du hart daran arbeitest zu praktizieren und das als Opfergabe benutzt, dann ist das die Opfergabe, die ich wirklich mag. Du musst dich gewissenhaft bemühen und Erfolg haben!

Ich habe dich all die einzigartigen Dharma von Meister Naropa und die mündlichen Überlieferungen der Dakinis gelehrt. Meister Naropa hat nur mich und keinen anderen Schüler diese Verse gelehrt. Ich habe sie an dich weitergegeben, wie wenn man Wasser von einer Flasche in eine andere Flasche gießt – ohne einen Tropfen übrig zu lassen. Um dir zu zeigen, dass das, was ich gesagt habe, wahr ist und dass ich nicht übertrieben habe, gebe ich jetzt mein Versprechen vor den Meistern und vor allen Buddhas und Gottheiten.‘

Mit diesen Worten legte er seine Hand auf meinen Kopf und sagte: ‚Sohn, wenn du diesmal gehst, bin ich sehr traurig im Herzen. Aber alle bedingten Dharmas sind sowieso flüchtige Erscheinungen. Es gibt nichts, was ich tun kann. Bitte habe es nicht so eilig wegzugehen. Bleibe noch ein paar Tage hier, um alle Verse durchzusehen. Wenn du Fragen hast, stelle sie mir und ich kann dir dabei helfen.‘

Auf Anweisung des Meisters blieb ich noch einige Tage und klärte meine Verwirrtheit. Der Meister sagte: ‚Dakmema, bitte bereite die besten Opfergaben für Milas Abreise vor.‘ Die Frau des Meisters bereitete die besten Opfergaben für Meister, Buddhas, Boddhisattvas, Dakinis und Göttlichen Wärter sowie ein Festessen für die Vajra-Brüder vor. Der Meister zeigte seine Fähigkeiten voll und ganz. Manchmal erschien er als Gottheiten aus Hevajra, manchmal als Gottheiten aus Chakrasamvara und manchmal als Gottheiten aus Guhyasamaja. Seine prachtvollen Ornamente beinhalteten auch eine Vajra-Glocke, einen Vajra-Stößel, ein Rad, Juwelen, Lotusblumen und ein Schwert. Rot, weiß und blau, Om und Ah und Hum Töne. (Die Worte Om, Ah, Hum sind grundlegend für alle geheimen Verse mit Om in Rot, Ah in Weiß und Hum in Blau.) Diese drei Worte gaben ein intensives Licht ab, mit allen möglichen beispiellosen Manifestationen. Der Meister sagte: ‚Das sind alles nur übernatürliche Fähigkeiten des Körpers. Auch wenn sie in großem Ausmaß gezeigt werden könnten, sind sie trotzdem nur erzeugte Illusionen, die wenig Nutzen bringen. Ich habe sie dir jetzt gezeigt, Milarepa, da wir heute Abschied voneinander nehmen.  

Als ich den Meister mit einer Tugend sah, die der eines Buddhas ähnlich war, war ich sehr froh und dachte: ‚Ich werde definitiv hart an der Kultivierung arbeiten und auch übernatürliche Fähigkeiten wie der Meister erlangen.‘

Der Meister fragte: ‚Hast du gesehen? Hast du nun die Entschlossenheit?‘

Ich antwortete: ‚Ich habe es gesehen, Meister! Ich kann nicht anders, als entschlossen zu sein. Ich will hart an der Kultivierungspraktik arbeiten und in Zukunft auch übernatürliche Fähigkeiten wie der Meister erhalten.‘

Der Meister sagte: ‚Ja, du musst es in der Praxis gut machen. Bitte erinnere dich an diese Lehren von mir, die wie Illusionen sind. Praktiziere, bis du jene Ebene erreicht hast. Was die Orte zum Praktizieren der Kultivierung betrifft, solltest du die Höhlen in den schneebedeckten Bergen, den steilen Tälern und tiefen Wäldern nutzen. Unter den Höhlen solltest du zu jenen Orten gehen, wo indische Meister praktiziert haben. Oder geh nach Lapchi Gangra, eines der vierundzwanzig heiligen Länder. Es gibt auch Yolmo Gangra wie eine Voraussage aus dem Avatamsaka Sutra und dem Chubar von Drin, wo sich die Dakinis treffen. Sie alle sind gute Orte für die Meditation. Es können andere abgelegene Orte, wo keine Menschen sind, auch geeignet sein, falls es dort eine vorherbestimmte Seelenverwandtschaft gibt. Du solltest zum Erfolg kommen, wenn du an diesen Orten praktizierst.

Es gibt auch heilige Orte im Osten, aber die vorherbestimmte Schicksalsverbindung ist noch nicht gekommen. Wenn du das Dharma in Zukunft verbreitest, werden manche Menschen in jenen Orten wachsen und gedeihen.

Du solltest gehen und in den zuvor genannten heiligen Orten praktizieren, so wie es prophezeit wurde. Wenn du Erfolge erzielt hast, sind diese auch eine Opfergabe an den Meister, eine Auszeichnung für die Eltern und ein Vorteil für alle Lebewesen. Außer die Buddhaschaft zu erlangen, kann nichts als beste Opfergabe erachtet werden, als die höchste Form von zurückgegebener Dankbarkeit. Wenn jemand nicht erfolgreich sein kann, auch wenn er über hundert Jahre lang lebt, wird er nur länger leben, während er in seiner Lebenszeit nur noch mehr Sünden begehen wird. Deshalb musst du jegliche Gier ans Leben und jegliches Sehnen nach dieser irdischen Welt aufgeben. Gib dich nicht mit Menschen ab, die weltlichen Anliegen frönen oder die sich an leerem Geschwätz über sinnlose Dinge beteiligen. Stattdessen solltest du von ganzem Herzen in deiner Kultivierung nach vorne streben!‘

Als der Meister dies sagte, vergoss er Tränen. Barmherzig schaute er mich an und fuhr dann fort: ‚Sohn, als dein Vater, wird es mir nicht möglich sein, dich in dieser Welt noch einmal zu sehen. Ich werde dich nie vergessen. Vergiss du mich auch nicht. Wenn du es schaffst, meinen Worten zu folgen, werden wir uns mit Sicherheit in Zukunft in Dhagpa Khadro (einem der heiligen Länder) treffen. Sohn, du sollst glücklich sein!

Wenn du in Zukunft praktizierst, wirst du auf eine schwere Behinderung des Energieflusses stoßen. Zu diesem Zeitpunkt kannst du das hier öffnen und lesen. Bitte öffne es nicht vorher.’ Mit diesen Worten gab der Meister mir einen mit Wachs versiegelten Brief. Ich lernte die Worte des Meisters auswendig und spürte ihren unbeschreiblichen Nutzen. Wann auch immer ich mich an die Lehren des Meisters erinnerte, wuchs meine Barmherzigkeit und ich machte Fortschritte in der Kultivierung. Die Gnade des Meisters ist wirklich unbeschreiblich!‘

Der Meister sagte dann zu seiner Frau: ‚Dakmema, bitte bereite für morgen die Reise für Starken Mann Mila vor! Obwohl ich sehr traurig bin, werde ich trotzdem an der Verabschiedung teilnehmen. Sohn, lass uns heute Nacht zusammen sein, damit wir – Vater und Sohn – gute Gespräche führen können.‘

Jene Nacht verbrachte ich zusammen mit dem Meister und seiner Frau im Zimmer des Meisters. Seine Frau war zutiefst traurig und weinte ununterbrochen. Der Meister sagte: ‚Dakmema, warum weinst du? Er hat die grundlegendsten Verse der Dakinis vom Meister schon gelernt und wird demnächst in einer Höhle meditieren. Was gibt es da zu weinen? Lebewesen haben eine ihnen innewohnende Buddhanatur. Wegen ihrer Unwissenheit können sie sie nicht erkennen und sterben dann in Schmerzen. Tatsächlich sind diejenigen am erbärmlichsten, die in der Menschenwelt leben, aber dem Dharma nicht folgen. Ihretwegen sollten wir traurig sein. Aber wenn du ihretwegen weinst, müsstest du den ganzen Tag lang weinen.‘

Die Frau des Meisters sagte: ‚Deine Worte sind richtig. Aber wer kann eine solche Barmherzigkeit haben? Mein eigener Sohn war außergewöhnlich intelligent sowohl im weltlichen wie auch im überweltlichen Dharma. Er hätte große Erfolge gehabt, die ihm und anderen zugutegekommen wären. Aber er starb und das hat mich sehr geschmerzt. Nun ist dieser Schüler, der immer so gehorsam zuhört, keine Fehler gemacht hat und mit Glauben, Weisheit und Güte lebt, dabei fortzugehen. Ich hatte noch nie zuvor einen so guten Schüler. Also kann ich meine Traurigkeit nicht zurückhalten …‘ Bevor sie fertig gesprochen hatte, strömten noch mehr Tränen und sie begann wieder zu schluchzen.

Ich konnte auch nicht anders als zu weinen und auch der Meister wischte sich seine Tränen mit den Händen ab. Wir wollten uns nicht voneinander trennen, so waren wir alle schmerzerfüllt und hatten nur wenige Worte zu sagen. Deshalb sprachen wir in jener Nacht kaum etwas.

Am nächsten Morgen gingen wir zu dreizehnt, der Meister und die Schüler mit Essensopfergaben, mehrere Meilen weit, um mich zu verabschieden. Alle waren wegen des Abschieds in einer wehmütigen Stimmung. Als wir beim Dharma-Verbreitungs-Hang ankamen, von dem aus man in alle Richtungen sehen konnte, setzten wir uns hin und stellten alles für ein Opferritual auf.

Der Meister hielt meine Hände und sagte: ‚Sohn, du gehst nun nach Ü-Tsang. Es gibt viele Räuber in Tsang und ich dachte darüber nach, jemanden zu schicken, der mit dir geht. Aber aus karmischen Gründen musst du allein reisen. Obwohl du allein bist, werde ich um den Schutz des Meisters, der Gottheiten, der Dakinis und der Hüter beten. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es wird dir auf dem Weg gut gehen. Trotzdem solltest du vorsichtig sein.

Du kannst zuerst zu Ngokton Lama nach Hause gehen und die Verse mit ihm vergleichen, um zu sehen, ob es irgendwelche Unterschiede gibt. Von da aus kannst du nach Hause gehen. Du kannst nur sieben Tage in deiner Heimatstadt bleiben. Danach solltest du in die Berge gehen, um zu meditieren, damit es für dich und andere Nutzen bringt.‘

Die Frau des Meisters hatte für meine Reise Kleidung vorbereitet, einen Hut, Schuhe und Reiseproviant. Sie gab mir alles und sagte mit Tränen in den Augen: ‚Sohn, dies ist nur materieller Besitz. Es ist das letzte Mal, dass ich dich als deine Mutter sehe. Ich wünsche dir eine sichere Reise und Glück. Bitte versprich, dass wir uns in Oddiyana (dem Land der Dakinis) treffen werden!‘

Nachdem sie fertig gesprochen hatte, schluchzte die Frau des Meisters erneut. Viele Menschen, die kamen, um mich zu verabschieden, vergossen Tränen. Ich machte ernsthaft Kotau vor dem Meister und seiner Frau und berührte ihre Füße mit meinem Kopf für den Segen. Dann gingen wir auseinander.

Ich blickte ab und zu zurück. Alle weinten noch und ich konnte es nicht ertragen zurückzuschauen. Die Bergstraßen krümmten sich allmählich und mit der Zeit konnte ich den Meister und seine Frau nicht mehr sehen.

Nachdem ich eine Weile gelaufen war und einen Bach überquert hatte, blickte ich zurück. Es war zu weit, um deutlich zu sehen, aber ich konnte den Meister erkennen und andere, wie sie immer noch in diese Richtung schauten. Ich war niedergeschlagen und wollte fast zurücklaufen. Auf der anderen Seite wusste ich, dass ich die Verse zur Vollendung gelernt hatte. Ich dachte: ‚Solange ich keine Taten begehe, die schlechtes Karma erzeugen, immer an den Meister denke und den Meister verehre, wird es dasselbe sein, wie wenn ich bei ihm geblieben wäre. Ich werde den Meister und seine Frau mit Sicherheit in Dhagpa Khadro treffen. Dieses Mal kann ich zuerst nach Hause gehen, um Mutter zu besuchen. Ich werde dann zurückkehren, um den Meister zu besuchen, richtig?‘ Also unterdrückte ich die Traurigkeit in meinem Herzen und ging zu Ngokton Lama nach Hause.

Nachdem ich den Ngokton Lama getroffen hatte, verglich ich meine Verse mit seinen. Er konnte das Tantra besser erklären und das Dharma besser erläutern als ich, aber ich war nicht schwächer als er bei den Versen zur Kultivierung. Vor allem über die mündlichen Lehren der Dakinis wusste ich sogar mehr als er. Zum Ende warf ich mich in Ehrerbietung vor ihm nieder, wünschte mir etwas und ging Richtung zu Hause.

Es waren fünfzehn Tage zu Fuß, aber ich kam in drei Tagen an. Ich dachte: ‚Die Wirkung der Meditation ist wirklich erstaunlich!‘

Rechungpa fragte: „Meister, nachdem Ihr in Eure Heimatstadt zurückgekehrt seid, war das dann ähnlich wie in dem Traum? Habt Ihr Eure Mutter gesehen?“

Der Ehrenwerte antwortete: „Die Situation in meinem Haus war die gleiche wie im Traum. Ich habe meine Mutter nicht gesehen.“

Rechungpa fragte: „Wie war es, als Ihr nach Hause gekommen seid? Habt Ihr irgendjemanden in der Stadt getroffen?“

„Als ich in der Nähe meiner Heimatstadt war, hielt ich an einem Fluss flussaufwärts von der Stadt an, von wo aus mein Haus zu sehen war. Einige Kinder waren mit Schafen da. Ich fragte sie: ‚Freunde, darf ich fragen, wer in diesem großen Haus lebt?‘

Ein älteres Kind antwortete: ‚Es wurde das Haus mit den vier Säulen und acht Balken genannt. Außer Gespenstern wohnt dort niemand.‘

‚Sind die Besitzer des Hauses gestorben oder sind sie weggezogen?‘

‚Diese Familie war früher die reichste im Dorf und sie hatten nur einen Sohn. Da der Vater früh verstarb und sein Testament nicht richtig gehandhabt wurde, nahmen die Verwandten das gesamte Vermögen der Familie weg. Als der Sohn groß geworden war und um Rückgabe seines Eigentums bat, waren die Verwandten nicht bereit dazu. So schwor der Sohn, Beschwörungen zu lernen. Durch Beschwörungen und Hagelsturm tötete er viele Menschen und fügte dem Dorf schweren Schaden zu. Jeder in unserem Dorf hatte Angst vor seinen himmlischen Hütern. Wir wagen es nicht, einen Blick auf das Haus zu werfen, schon gar nicht, es zu besuchen! Ich denke, dieses Haus beherbergt nur noch den Leichnam seiner Mutter und Geister. Der Sohn hatte eine jüngere Schwester, die sehr arm war und den Körper ihrer Mutter zurückließ. Sie ging irgendwohin, um zu betteln. Was den Sohn betrifft, so haben wir seit vielen Jahren nichts mehr von ihm gehört. Wir wissen nicht, ob er noch lebt. Jemand sagte, dass es viele Schriften in dem Haus gibt. Wenn du mutig bist, kannst du hineingehen und nachsehen.‘

Ich fragte den Hirtenjungen: ‚Über wie viele Jahre sind diese Dinge geschehen?‘

Er antwortete: ‚Seine Mutter ist vor etwa acht Jahren gestorben. Ich erinnere mich deutlich an die Beschwörungen und den Hagelsturm. Ich hörte die anderen Dinge von Erwachsenen, als ich noch sehr klein war. Ich kann mich nun nicht mehr gut an sie erinnern.‘

Ich dachte: ‚Die Dorfbewohner hatten Angst vor meinen göttlichen Hütern und wagten es nicht, mich zu verletzen.‘ Ich wusste auch, dass Mutter gestorben war und meine Schwester auf Wanderschaft war, um zu betteln. Ich hatte tiefe Traurigkeit in meinem Herzen.

In der Abenddämmerung, als niemand da war, ging ich zum Fluss und weinte lange Zeit. Nach Einbruch der Dunkelheit ging ich ins Dorf und alles war genauso wie in dem Traum. Das Feld draußen war mit Unkraut und Brombeeren überwachsen. Das einst so prächtige Haus und die Familienhalle, um die Buddhas zu verehren, waren bereits verfallen. Als ich hineinging, fand ich die Maharatnakuta Schriften, die vom Regenwasser beschädigt und mit Mauertrümmern und Vogelmist bedeckt waren. Die Schriften waren fast zu einem Nest für Mäuse und Vögel geworden.

Als ich all das sah und mich daran erinnerte, was in der Vergangenheit geschehen war, überkam mich ein starkes Gefühl der Traurigkeit. Ich ging in die Nähe der Tür und sah einen großen Hügel aus Dreck, der mit Unkraut bedeckt und mit zerlumpten Kleidern umwickelt war. Ich schob etwas Schmutz mit den Händen weg und bemerkte darunter einen Haufen menschlicher Knochen. Ich war zunächst verwirrt und erkannte erst danach, dass es die Knochen meiner Mutter waren. Der Schmerz drückte mir die Kehle zu. Ich wurde ohnmächtig. Kurz danach wachte ich wieder auf und erinnerte mich sofort an die Verse des Meisters. Durch Visualisierung verband ich die Seele meiner Mutter mit meinem Herzen und mit der Weisheit der mündlichen Abstammungs-Meister. Ich legte meinen Kopf auf die Knochen meiner Mutter und  konzentrierte meinen Körper, meine Sprache und meinen Geist voll und ganz auf das Mahamudra Samadhi, wobei ich es nicht wagte, die Konzentration auch nur im Geringsten zu unterbrechen. Das dauerte sieben Tage und Nächte. Dann sah ich, wie sich Vater und Mutter aus den unteren Ebenen des Leidens trennten und in reine Länder übergingen.

Nach sieben Tagen kam ich aus Samadhi heraus. Als ich darüber nachdachte, erkannte ich, dass all das Dharma über Reinkarnation bedeutungslos ist, da alles auf dieser Welt bedeutungslos ist. Ich dachte daran, eine Buddhastatue mit den Knochen meiner Mutter zu bauen und sie vor dem Maharatnakuta Sutra als Opfergabe hinzustellen. Dann ging ich zur Drakar Taso Höhle (Weißer-Stein-Pferd-Zahn-Höhle), um hart an der Kultivierung zu arbeiten. Wenn ich nicht entschlossen sein und mich von den Acht Weltlichen Winden ablenken lassen sollte (Trauer und Freude, Verlust und Gewinn, Tadel und Lob, Erfolg und Misserfolg), würde ich lieber sterben, als in Versuchung zu geraten. Wenn mein Herz etwas nach Bequemlichkeit oder Freude streben sollte, hoffte ich, dass dann die Dakinis und die göttlichen Hüter mir mein Leben nehmen würden. Entschlossen schwor ich das viele Male mir selbst gegenüber.

Am Ende sammelte ich die Überreste meiner Mutter und nachdem ich den Vogelmist von den Maharatnakuta-Schriften gereinigt hatte, stellte ich fest, dass der Schaden durch das Regenwasser nicht zu schwerwiegend war und der Text immer noch lesbar war. Mit den Gebeinen meiner Mutter und dem Maharatnakuta-Sutra auf dem Rücken fühlte sich mein Herz sehr trostlos an und ich spürte eine starke Entschlossenheit, diese Welt der Reinkanation zu verlassen. Ich beschloss, diese Welt zu verlassen und fleißig das aufrichtige Dharma zu kultivieren. Während ich aus der Tür ging, war mein Herz mit Traurigkeit erfüllt. Als ich ging, sang ich ein Lied, das davon handelte, sich über diese irdische Welt im Klaren zu sein.

Ich sang und ging weiter, bis ich das Haus des Lehrers erreichte, der mir damals das Lesen beigebracht hatte. Aber der Lehrer war bereits verstorben. Ich gab die gesamten Maharatnakuta- Sutra-Schriften seinem Sohn als Opfergabe und sagte: ‚Diese Schriften sind meine Opfergabe an dich. Kannst du bitte eine Buddhastatue aus den Gebeinen meiner Mutter anfertigen?‘

Der Sohn des Lehrers antwortete: ‚Nein! Ich kann deine Schriften nicht akzeptieren, weil es dahinter göttliche Hüter gibt. Aber ich kann die Buddhastatue für dich anfertigen.‘

Ich sagte: ‚Bitte sorge dich nicht. Ich persönlich habe dir das als Opfergabe gegeben. Die göttlichen Hüter werden dich nicht stören.‘

Darauf sagte er: ‚Dann bin ich beruhigt.‘ Danach schuf er eine Buddhastatue aus den Gebeinen meiner Mutter und aus Ton. Nach dem Ritual des Lichtöffnens stellte er sie in einen Turm. Nachdem all das erledigt war, sagte er: ‚Bitte bleib hier für einige Tage, wir können gute Gespräche führen.‘

Ich antwortete: ‚Ich habe keine Zeit, mit dir zu lange zu sprechen. Ich möchte dringend gehen und mich kultivieren.‘

Er fragte: ‚Wie wäre es, wenn ich dich einfach einlade, eine Nacht bei mir zu bleiben? Ich muss dir noch Essen geben für deine Kultivierungspraktik morgen.‘ So willigte ich ein, für eine Nacht dort zu bleiben. Er wollte wissen: ‚Als du jung warst, hast du Beschwörungen und Zauberformeln gelernt. Nun lernst du das aufrichtige Dharma. Das ist sehr gut. Du wirst in der Zukunft mit Sicherheit große Erfolge erringen. Kannst du mir sagen, welche Art von Meistern du getroffen hast und was du gelernt hast?‘

Ich erzählte ihm ausführlich, wie ich erst einem Lama der Roten Sekte gefolgt war und das Dzogchen (Große Perfektion) Dharma erhalten und später von Meister Marpa gelernt hatte.

Da sagte er: ‚Das ist unglaublich. Wenn das so ist, kannst du dem Beispiel von Meister Marpa folgen, ein Zuhause finden und deine Verlobte Dzese zur Frau nehmen. Ist es nicht eine gute Sache, der Tradition deines Meisters zu folgen?‘

Ich antwortete: ‚Meister Marpa hat geheiratet, weil er auf diese Weise den Lebewesen Nutzen bringen wollte. Ich habe diese Fähigkeit nicht. An einem Ort, an dem ein Löwe springt, wenn da ein Kaninchen seine Fähigkeiten überschätzt und versucht zu springen, wird er mit Sicherheit in den Tod springen. Außerdem ist mir diese Welt der Reinkarnation zutiefst zuwider. Abgesehen von den Versen und dem Dharma des Meisters will ich nichts von dieser Welt. In eine Höhle zu gehen, um zu meditieren, ist die beste Opfergabe an den Meister. Auf diese Weise erbe ich die Tradition. Es ist auch der beste Weg, um den Meister glücklich zu machen. Wenn jemand anderen Vorteile bringen will und das Buddha Dharma verbreiten will, kann man das nur durch die Kultivierung erreichen – es ist dasselbe, wenn man Eltern die Erlösung anbietet oder sich selbst hilft. Außer dem Praktizieren vom Dharma habe ich kein Wissen, möchte mich auch nicht kümmern und habe kein Interesse an irgend etwas anderem.‘

Als ich dieses Mal zurückkam, sah ich mein verlassenes Haus und eine zerbrochene Familie. Das lässt mich zutiefst verstehen, dass das Leben vergänglich und unberechenbar ist. Die Menschen arbeiten sehr hart, um Geld zu verdienen oder Reichtum anzuhäufen. Aber am Ende ist es nur wie ein Traum. Deshalb bin ich mehr denn je bereit, diese Welt zu verlassen.

Ein Zuhause ist wie ein brennendes Haus. Diejenigen, die noch nicht gelitten haben oder die vergessen, dass wir später sterben und auf den niedrigen Ebenen während der Reinkarnation in Not geraten werden, werden in dieser irdischen Welt nach Freude suchen. Aber ich habe das durchschaut. Unabhängig von Armut, Hunger oder Spott von anderen werde ich mein Leben für die Kultivierung, für mich selbst und für die Lebewesen verbringen.‘

Der Verfall meines Hauses, der Tod meiner Mutter und der Weggang meiner Schwester gaben mir eine unvergessliche Lektion und ein tiefes Verständnis über die Unbeständigkeit. Ich konnte nicht umhin, immer wieder zu sagen: ‚Geh, meditiere in den tiefen Bergen.‘ In den tiefsten Tiefen meines Herzens bin ich immer wieder entschlossen, jegliche Freuden aufzugeben, mein Leben auszuschöpfen und meine gesamte Zeit damit zu verbringen, das Dharma zu praktizieren.

(Fortsetzung folgt)

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