Bildbetrachtung: Ist Li Di’s Bild vom Vogel auf dem Ast banal, naturgetreu oder von nobler Eleganz?

Das Bild von Li Di zeigt einen mit Schnee überzuckerten kahlen Ast, der von einem Bambus im Vordergrund begleitet wird. Auf dem Ast hat sich ein gefiedeter Besucher niedergelassen.

Das Motiv möchte dem Betrachter nicht nur ein Bild, sondern auch ein Gefühl vermitteln. Nämlich das Erleben des Winters mit seiner Kälte, seiner sanften Stille und der ruhenden Natur. Der Vogel ist detailgetreu gemalt und klar erkennbar als ein Chinese Grey Shrike (Lanius-Familie). Zu Deutsch: Keilschwanzwürger.

Der Maler Li Di diente drei aufeinanderfolgenden Kaisern als Hofmeister und ist repräsentativ für den Beruf des Malers in seiner Zeit. Er arbeitete an der kaiserlichen Akademie der Künste und viele Schüler gingen bei ihm in die Lehre.

Gewisse Gelehrte sollen seinen Malstil als eher weltlich und langweilig empfunden haben. Andere hingegen vermochten es, Anschaulichkeit, Natürlichkeit und Eleganz in seiner Darstellungsweise von Vögeln und Blumen zu entdecken.

Im vergrösserten Bildausschnitt ist gut zu sehen, wie Li Di versucht hat, die Idee des Winters für den Betrachter wahrnehmbar zu machen. Indem er die weisse Farbe an Zweigen und Ästen aufgetragen hat, als wäre frischer Schnee gefallen. Wandert der Blick über die Fläche des Bildes, so werden überall weisse Tupfer erkennbar: Es schneit.

In der europäischen Malerei ist der Grad der maltechnischen Genauigkeit, mit der ein Objekt wiedergegeben wird, eine qualitative Aussage zum handwerklichen Können des Malers.
Im Land der Mitte steht die Kalligrafie an erster Stelle vor dem gemalten Bild. In der Schrift lässt sich nicht nur der Text, sondern auch der Charakter und die Stimmung des Schreibers erfassen. Deshalb wird von chinesischen Malern manchmal weniger auf Detailgenauigkeit oder Perspektive geachtet. Umso mehr wird ein Augenmerk gelegt auf Integrität, Harmonie und die genaue Wiedergabe der Stimmung (Gefühl, Eindruck, Aussage) die der Künstler beim Malen seines Motivs empfunden hatte.

Zum Abschluss eine Zeitreise von Li Di aus der Song-Dynastie in unsere Gegenwart. Das Bild des sich im Schwebeflug befindenden Keilschwanzwürgers wurde am 9. November 2019 in Hongkong aufgenommen.

Keilschwanzwürger im Schwebeflug Quelle: The Internet Bird Collection – Chinese Grey Shrike,
Fotografiert von lchunfai, publiziert mit ausdrücklicher Genehmigung von Chun Fai Lo

Hinweis für Interessierte: Das Palace Museum in Taiwan hatte zu Beginn des Jahres 2019 eine Ausstellung organisiert mit dem Titel: „Vögel, Blumen und Früchte in Harmonie“. Gezeigt wurden Werke aus den Song, – Ming und Qing-Dynastien. Den Bildern wurden aktuelle Fotografien der Vögel gegenübergestellt, um das Können der damaligen Meister zu unterstreichen. https://theme.npm.edu.tw/exh108/Birds/en/page-1.html

Quellenangaben:
Das Bild von Li Di (Song-Dynastie) Vogel auf schneebedecktem Ast, Originalgrösse 115.2cm x 52.8cm, Shanghai Museum
Das Buch von Huang Kunfeng An illustrativ Guide to 50 Masterpieces of chinese Paintings, Better Link Press, 2019, Seite 64/65
Flower and Bird Painting in Ancient China von Liu Fengwen, Shenzhen International Color Printing Co., Ltd/China Intercontinental Press Peking, 2007, Seite 7 und 42
Three Thousand Years of Chinese Painting von Yang Xin, Yale University and Foreign Language Press 1997, Seite 129

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