Stuttgarter Zeitung (D): Noch sind ganze Dörfer von der Außenwelt abgeriegelt


In Peking und in den Küstenprovinzen werden Erfolge im Kampf gegen SARS gemeldet. Die Lage im Hinterland aber macht den Experten große Sorgen. Chinas Gesundheitsministerin Wu Yi hat am Montag vor zu frühem Jubel und nachlassender Wachsamkeit gewarnt.

Von Harald Maass, Datong

Zwei Krankenschwestern sitzen auf der Eingangstreppe der gelben Klinikgebäudes und ruhen sich von der Morgenschicht aus. Die Schutzmasken aus weißer Mullbinde haben sie vom Mund gezogen. Patienten mit Geldbündeln in der Hand und Mütter mit ihren Kindern drängen an ihnen vorbei. Auf der Straße verkaufen Händler Obst und Getränke. Ein paar Meter über ihnen, im ersten Stockwerk des Volkskrankenhauses Nummer fünf, sind die Fenster zur Straße weit geöffnet. Seit zwei Wochen liegen hier eine Mutter und ihr erwachsener Sohn. Sie sind mit dem SARS-Virus infiziert.

Das Krankenhaus in Datong, einer Industriemetropole in der Kohleprovinz Shanxi, ist für Epidemiologen ein Horror. Keine fünf Meter von den geöffneten Fenstern der Krankenzimmer entfernt, wo die beiden SARS-Patienten sowie weitere Verdachtsfälle behandelt werden, führt eine belebte Hauptstraße vorbei. Auf der Hinterseite des Gebäudes bewachen Ärzte in weißen Schutzanzügen den Zugang zum ersten Stock. Doch die Virusträger sind kaum von dem restlichen Krankenhaus isoliert. Im Erdgeschoss des kleinen Gebäudes drängen sich normale Patienten. In anderen Kliniken in Datong sieht es ähnlich aus. „In allen Krankenhäusern liegen SARS-Patienten, außer im Volkskrankenhaus Nummer eins“, sagt eine Schwester.

Seit einem Monat führt China eine landesweite Kampagne gegen das SARS-Virus. Nie zuvor hatte ein Land in den vergangenen Jahren so drastische Maßnahmen zum Schutz vor einer Krankheit unternommen. In Peking und den wirtschaftlich wichtigen Küstenprovinzen verschanzten sich Millionen tagelang in ihren Wohnungen. Fabriken, Büros, Schulen und Universitäten wurden geschlossen. Eilig wurden Krankenhäuser modernisiert, Seuchenstationen aufgebaut.

Weil die Regierung nachlässigen Kadern mit der Entlassung droht, greifen die lokalen Behörden nun hart durch. In der südlichen Wirtschaftsmetropole Nanjing stellten die Beamten nach einem einzigen SARS-Verdacht eine ganze Wohnanlage mit zehntausend Bewohnern unter Quarantäne. Wer sich gegen die Quarantänebestimmungen wehrt, dem drohen empfindliche Strafen. Wer fahrlässig handele, müsste mit Gefängnis und im Extremfall mit der Todesstrafe rechnen, erklärte Pekings Oberstes Gericht.

Doch während die Maßnahmen in den Küstenstädten zu greifen beginnen und die Infektionszahlen sinken, hat sich das Virus in den vergangenen Wochen im Hinterland ausgebreitet. Die schlecht ausgerüsteten Landkliniken und Dorfärzte sind überfordert. Sollte sich das Virus in den bevölkerungsreichen Provinzen im Hinterland festsetzen, glauben Epidemiologen, bestehe kaum noch eine Chance zur Ausrottung der Krankheit. Auch Peking dürfte die Gefahr erkannt haben: Chinas Gesundheitsministerin Wu Yi hat am Montag vor zu frühem Jubel und nachlassender Wachsamkeit in Sachen SARS gewarnt.

Datong, eine Millionenstadt mit stinkenden Fabrikschloten und Kohlestaub in der Luft, ist einer der Orte, an denen sich der Kampf gegen SARS entscheiden könnte. In den offiziellen Statistiken, die täglich von der Stadtverwaltung an die Provinz und von dort weiter an die Zentralregierung in Peking geschickt werden, gab es vor einer Woche fünf bestätigte SARS-Fälle. Zehn Patienten würden als Verdachtsfälle registriert, erklärt ein Beamter vom SARS-Büro in Datong.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Recherchen haben ergeben, dass mindestens 70 Menschen in der Stadt wegen SARS behandelt werden. Allein im Eisenbahnkrankenhaus liegen 37 Patienten mit starken SARS-Symptomen auf der Isolierstation. Ähnliche Stationen wurden in den Volkskrankenhäusern Nummer fünf, drei und zwei eingerichtet. Offiziell ist nur das Krankenhaus Nummer vier in Datong, eine Spezialklinik für Infektionskrankheiten, für die Behandlung von SARS-Patienten zugelassen. Das Gebäude, ein grauer Betonklotz im sozialistischen Stil der siebziger Jahre, ist von einem kleinen Park mit Bäumen umgeben. „Es gibt mehr als 20 SARS-Fälle in dem Krankenhaus“, berichtet ein Mitarbeiter, dessen Tochter auf der Intensivstation SARS-Kranke betreut. Viele der Infizierten seien Krankenhauspersonal. „Das sind natürlich nicht die Zahlen, die sie in der Zeitung veröffentlichen“, erklärt der Mann. Um die hohen Ansteckungszahlen zu vertuschen, werden die zum Teil schwer kranken Patienten innerhalb der Krankenhäuser nur als Verdachtsfälle registriert.

Viele Fälle tauchen in den offiziellen Statistiken nie auf: Die infizierte Mutter und ihr Sohn, die seit drei Wochen im Krankenhaus Nummer fünf liegen, gehören zur Familie eines Vizedirektors des Krankenhauses. Der Sohn studiert in Peking und hatte sich dort infiziert. Trotz der Gefahr und entgegen den Quarantänebestimmungen holten die Eltern den Sohn mit ihrem Auto in Peking ab und brachten ihn nach Datong. Die Mutter steckte sich dabei selbst mit dem Virus an.

Der Feldweg in das Dorf Zhangxiao, 50 Kilometer östlich von Datong, ist mit einer Holzbarrikade versperrt. Auf der Wiese stehen Militärzelte. Männer in grünen Uniformen und Mundschutzmasken vor dem Gesicht hindern Bauern auf Fahrrädern am Passieren. „Das Dorf ist gesperrt“, erklärt ein Kader in schwarzer Lederjacke. Nachdem sich mehrere Bauern mit dem Virus infiziert hatten, wurde das ganze Dorf mit seinen 1100 Bewohnern unter Quarantäne gestellt.

Die Menschen in Datong wissen nicht, wie groß die Ansteckungsgefahr hier ist. Auf den Straßen trägt fast niemand eine Mundschutzmaske. Die örtliche Zeitung und der staatliche Fernsehsender berichten nur von den fünf offiziellen Fällen. Gegenüber vom Krankenhaus Nummer vier ist eine Schule, Kinder spielen auf dem Hof. Nebenan verkaufen Händler aus großen Töpfen Fleischsuppe, die in einer Gasse mit Unrat stehen.

„Die Ärzte sind gegen SARS machtlos“, sagt eine Köchin, die in einer Pfanne Schweinefüße brät. Für viele in Datong ist SARS eine mystische Krankheit. Ein Unheil, vom Himmel geschickt. Seit dem Ausbruch der Epidemie sieht man in der Stadt Händler, die an Ständen Feuerwerkskörper verkaufen. Der Krach soll die bösen SARS-Geister vertreiben.

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