GfbV & IGFM: Armutszeugnis deutscher Menschenrechtspolitik: Protest gegen Einschränkung der Demonstrationsfreiheit

Göttingen/Berlin, den 23. April 2002

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

nachdrücklich protestieren die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) gegen die bewusste Aushöhlung des im Grundgesetz verankerten Demonstrationsrechts durch Bundes- und Landesbehörden während des Deutschlandbesuches des chinesischen Staatspräsidenten Jiang Zemin vom 8. bis 13. April 2002. Wenn friedliche Demonstranten in Berlin, Potsdam, Meißen, Dresden, Goslar und Wolfsburg auf Anordnung der Protokollabteilung des Auswärtigen Amtes systematisch außer Sicht- und Hörweite des Staatsgastes gehalten werden, jubelnde Fahnenschwenker aus China jedoch in unmittelbarer Nähe des Staatsbesuchers applaudieren dürfen, dann ist dies nicht nur ein Armutszeugnis deutscher Menschenrechtspolitik, sondern auch Ausdruck eines seltsamen Demokratieverständnisses.

· Wenn Besuchsprogramme geheim gehalten werden,
· wenn die Erteilung der Genehmigung für Mahnwachen bis zum letzten Moment verzögert wird, um den Aufruf zu Demonstrationen zu behindern und rechtliche Schritte gegen die Auflagen der Versammlungsbehörde zu verhindern,
· wenn Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Kleidung oder ihres Bekenntnisses zu einer Glaubensgemeinschaft von öffentlichen Plätzen gewiesen oder aus von ihnen gebuchten Hotels hinausgeworfen werden,
· wenn chinesische Geheimdienstler deutschen Polizisten Anweisungen erteilen, welche Zuschauer zu entfernen sind,
· wenn Journalisten beim Fotografieren von übergriffen deutscher und chinesischer Sicherheitsbeamter von Polizisten behindert werden, dann hat die demokratische Streitkultur in unserem Land einen Tiefpunkt erreicht.

In einer viel zitierten Rede vor Studenten der Pekinger Universität priesen Sie, Herr Bundeskanzler, am 1. November 2001 die Vorzüge des Rechtsstaates in Deutschland. Angesichts des Umgangs mit Demonstranten im eigenen Land würden Sie dafür heute nur noch mitleidiges Grinsen ernten, nicht nur von Ihren damaligen Zuhörern, sondern auch von der chinesischen Regierung, die die Ernsthaftigkeit Ihrer Demokratie-Appelle bezweifeln muss.

Seit dem Ende des Staatsbesuches haben wir Dutzende Zeugenaussagen ausgewertet, die ein düsteres Bild vom Umgang deutscher Sicherheitskräfte mit Demonstranten zeichnen. Obwohl die GfbV bereits am 28. März eine Mahnwache vor dem Bundeskanzleramt für den 9. April beantragt hatte, wurde ihr erst am 8. April eine Genehmigung für eine Mahnwache in mindestens 400 Meter Entfernung erteilt. Auch allen anderen in Berlin vor dem Bundeskanzleramt, dem Bundespräsidialamt und dem Roten Rathaus demonstrierenden Menschenrechtsorganisationen wurden Standorte außerhalb der Sichtweite des Staatsgastes zugewiesen. Noch im August 2001 hatte Falun Gong unmittelbar neben dem Bundeskanzleramt friedlich demonstrieren können. Besonders ärgerlich war, dass sowohl vor dem Bundeskanzleramt als auch vor dem Hotel Kempinski in Dresden Fähnchen schwenkenden chinesischen Claqueuren erlaubt wurde, die Absperrungen zu passieren, um in unmittelbarer Nähe dem Staatsgast zuzujubeln. Die Sicht auf die Demonstranten wurde hingegen mit Bussen, Mannschaftswagen und einem Cordon von Polizeibeamten verstellt.

Ein Einzeldemonstrant, der mit Transparenten auf einem Kleinlaster auf die Menschenrechtsverletzungen in China hinweisen wollte, wurde just immer in dem Moment von der Polizei kontrolliert, wenn er die Fahrtroute Jiang Zemins kreuzte. Besonders schwerwiegend waren die übergriffe gegenüber mutmaßlichen Anhängern der Meditationsbewegung Falun Gong. Nur aufgrund ihres chinesischen Aussehens wurde mehreren Personen der Zutritt zu dem von ihnen gebuchten Hotel Adlon in Berlin verwehrt, in dem sich Jiang Zemin aufhielt. Hotelgäste, die der Unterstützung von Falun Gong verdächtigt wurden, mussten auf Anordnung von Mitarbeitern des Bundeskriminalamtes unverzüglich ihre Zimmer räumen. Eine US-Staatsbürgerin, die sich weigerte, wurde in Handschellen abgeführt. Eine Kanadierin wurde auf Betreiben der Polizei von vier Hotelangestellten gewaltsam aus dem Haus getragen. Hotel-Mitarbeiter erklärten, die Polizeibeamten handelten auf Weisung der Protokollabteilung des Auswärtigen Amtes. Jede schriftliche Erklärung wurde von der Polizei verweigert, in den meisten Fällen lehnten die Beamten es auch ab, ihre Namen zu nennen.

Angesichts dieser Behinderungen durch Sicherheitskräfte entschlossen sich Falun Gong-Praktizierende zu friedlichen Einzelprotesten, indem sie das Spruchband „Falun Dafa ist gut“ entrollten oder sich in gelber Kleidung, in den Farben Falun Gongs, zeigten. Die Proteste waren weder diffamierend noch zentral koordiniert, doch gingen deutsche Polizisten in enger Kooperation mit chinesischen Geheimdienstlern unverzüglich gegen jeden Demonstranten vor. Als ein Pressefotograf am 11. April in Meißen fotografierte, wie eine Frau mit einem gelben Spruchband von Polizisten überwältigt wurde, hielten Polizeibeamte ihre Hand vor das Objektiv der Kamera. Als ein Falun Gong-Praktizierender den Zwischenfall fotografieren wollte, drohte ein Polizist: „Wenn Du die Kamera hochhebst, werfe ich sie in die Elbe.“ In Dresden würgte vor dem Hotel Kempinski ein chinesischer Geheimdienstler am 11. April eine in Deutschland lebende Chinesin, als sie Jiang Zemin zurief: „Falun Gong ist gut“. In Berlin und Dresden durften Falun Gong-Praktizierende den ihnen von der Polizei zugewiesenen Übungsplatz nicht frei verlassen. Wer in der Nähe der Fahrtroute von Jiang Zemin mit gelben Kleidungsstücken angetroffen wurde, musste die Kleidung ablegen und erhielt Platzverweis. In Berlin, Potsdam, Dresden und Goslar wiesen chinesische Sicherheitsbeamte deutsche Polizisten an, welche Zuschauer zu entfernen seien. Die deutschen Polizeibeamten folgten ausnahmslos diesen Anordnungen.

Behinderungen von Mahnwachen beim Besuch chinesischer Staatsgäste gab es auch bereits unter vorangegangenen Bundesregierungen. Als Jiang Zemin 1995 Ludwigsburg besuchte, wurden die gellenden Pfiffe von Demonstranten vom Polizeimusik-Korps überspielt und Mannschaftswagen verstellten die Sicht auf die Menschenrechtler. Doch die jüngsten Vorkommnisse stellen alle bisherigen Versuche in den Schatten, das Demonstrationsrecht auszuhöhlen. Nachdrücklich appellieren wir an Sie, Herr Bundeskanzler, das im Grundgesetz verankerte Recht auf Demonstrationsfreiheit zu respektieren. Ansonsten werden Menschenrechtsorganisationen in Zukunft auch juristische Mittel nutzen, um einen Angriff auf Grundwerte unserer demokratischen Rechtsordnung abzuwehren.

Mit freundlichen Grüßen

Tilman Zülch
GfbV-Generalsekretär

Karl Hafen
Geschäftsf. IGFM-Vorsitzender

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