Alte Kultivierungsgeschichte: Loslassen der Gefühle

In einer Legende heißt es, dass alle Menschen in der Stadt Balrampur edelmütig, höflich und weise wurden, nachdem Shakyamuni sein Dharma verbreitete hatte.

Als ein Nicht-Buddhist davon hörte, nahm er die weite Reise nach Balrampur auf sich, um Shakyamuni um Anleitung zu bitten. Jedoch traf er auf seiner Reise auf etwas, was er nicht verstehen konnte.

Balrampur lag in einem tropischen Gebiet, in dem es viele giftige Schlangen gab. Vor der Stadt Balrampur sah er einen Mann mit seinem Sohn auf dem Feld arbeiten. Plötzlich kam eine Giftschlange aus dem Grass hervor und biss den Sohn. Kurz darauf verstarb er. Der Vater arbeitete derweil weiter und schien vom Tode seines Sohnes wenig betroffen.

Überrascht fragte der Nicht-Buddhist den alten Mann: „Wer ist dieser junge Mann?“
“Mein Sohn.”
“Ihr Sohn ist gerade eben verstorben und Sie sind überhaupt nicht traurig, sondern arbeiten ganz normal weiter? Ist das nicht ihr leiblicher Sohn?“
„Weshalb sollte ich traurig sein? Der Tod ist ein Bestandteil des Lebens. Das Aufblühen und der Zerfall folgen ihrem eigenen Rhythmus. Nun, da dieser Mensch tot ist, wenn er gut war, wird es ein gutes Arrangement für ihn geben. Wenn er schlechte Dinge getan hat, wird er sofort Vergeltung erleiden. Was soll es der verstorbenen Person bringen, wenn ich weine?“

Der alte Mann schaute den erstaunten Nicht-Buddhisten an und fragte ihn: „Gehen Sie in die Stadt? Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?“ Der Nicht-Buddhist willigte ein. Der alte Mann fuhr fort: „Wenn Sie in die Stadt hineinkommen, könnten Sie bitte am zweiten Haus auf der rechten Seite anklopfen und meiner Familie sagen, dass ich nur ein Mittagessen benötige, da mein Sohn durch einen Schlangenbiss getötet wurde.“

Der Nicht-Buddhist war einfach fassungslos. Wie konnte der alte Mann so grausam sein? Sein Sohn ist gerade gestorben und er zeigt kein Anzeichen von Trauer. Er hatte sogar noch sein Mittagessen im Sinn. Wie kann ein Vater nur so gefühlskalt sein?

Tatsächlich fand der Nicht-Buddhist das Haus des alten Mannes. Er erzählte der alten Frau: „Ihr Sohn starb nach einem Schlangenbiss. Ihr Mann bat mich Ihnen die Nachricht zu überbringen, dass er nur ein Mittagessen benötige.“ Die alte Frau bedankte sich bei dem Nicht-Buddhisten, zeigte aber auch kein Anzeichen von Trauer. Also fragte er: „Sind Sie gar nicht traurig über den Tod Ihres Sohnes?“

Die alte Frau antwortete: “Dieser Sohn kam aus eigenem Wunsch in unsere Familie. Ich bat Ihn nicht zu uns zu kommen. Nun da er gegangen ist, kann ich ihn auch nicht behalten. Wir sind alle wie Reisende, die eine Nacht im selben Hotel wohnen. Am nächsten Tag machen wir uns alle auf unseren eigenen Weg. Keiner kann den anderen festhalten. Genauso ist auch das Verhältnis zwischen meinem Sohn und mir. Ich habe keinen Einfluss auf das Kommen und Gehen meines Sohnes. Alles folgt den vorherbestimmten Schicksalsverbindungen.”

Als der Nicht-Buddhist das hörte, fand er das Ehepaar einfach kaltherzig. In diesem Moment kam die Schwester des Verstorbenen aus dem Haus. Der Nicht-Buddhist fragte Sie: „Dein jüngerer Bruder ist tot. Bist Du traurig?”

“Er ist bereits tot. Warum sollte ich traurig sein? Wir sind wie Baumstämme, die zu einem Floß zusammengebunden wurden. Wir schwimmen gemeinsam durchs Wasser. Sobald ein Sturm aufkommt, bricht das Floß auseinander und jeder der Baumstämme wird auf seinem eigenen Weg durch die Strömung getrieben. Die Baumstämme kann man nicht mehr zusammenbringen. Wir sind willkürlich zu Bruder und Schwester geworden und sind in dieselbe Familie gekommen. Jedoch ist das Leben für jeden anders. Es gibt keine feststehenden Zeiten für alle gemeinsam; wann man geboren wird und wann man stirbt. In diesem Fall geht er vor mir, was kann ich als Schwester dagegen tun?“

Gerade als die Schwester fertig gesprochen hatte, kam eine Frau aus einem anderen Haus heraus und sagte: “Mein Mann ist tot.“

Das verwirrte den Nicht-Buddhisten noch mehr. Er fragte die Frau: “Dein Mann ist tot, wie können Sie so tun, als sei nichts geschehen? Ist es Ihnen von Herzen gleichgültig?”

Ruhig antwortete die Frau: “Unsere Ehe ähnelte den fliegenden Vögeln im Himmel. In der Nacht rasten sie zusammen und am nächsten Morgen gehen sie jeder ihre eigenen Wege um Futter zu suchen. Jeder hat sein eigenes Schicksal. In seinem Schicksal steht, dass er nicht wiederkommen wird, sobald er einmal geflogen ist. Ich kann meinen Mann nicht ersetzen. Ich kann auch nicht sein Karma abtragen. Wir sind alle Menschen, die sich auf unserer Reise kennen lernen, aber früher oder später gehen wir alle unsere eigenen Wege."

Nachdem der Nicht-Buddhist das vernahm, war er ärgerlich. Er bereute es, so eine weite Strecke auf sich genommen zu haben, um sich solche Worte anhören zu müssen. Er glaubte in Balrampur die Wahrheit zu finden, weil er gehört hatte, dort seien die Menschen ihren Familienangehörigen gegenüber am loyalsten. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so kaltherzig sind.

Nichtsdestotrotz wollte er Shakyamuni sehen. Es wäre auch ziemlich bedauerlich gewesen, nach Hause zurückzukehren ohne den Buddha gesehen zu haben. Als er Shakyamuni traf, stellte er keine Fragen. Shakyamuni jedoch las in seinen Gedanken und fragte: “Was macht Dich so traurig?”

Der Nicht-Buddhist antwortete: „Meine Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Dinge, die ich traf, sind gegen meine Überzeugung, deshalb bin ich auch traurig.“

“Die Traurigkeit kann keine Probleme lösen. Du könntest mir lediglich einmal erzählen, was Dich so traurig gemacht hat“, antwortete Shakyamuni barmherzig.

“Ich bin von weither angereist, weil ich gehört habe, dass die Menschen in Balrampur Ihr Dharma gehört haben und dadurch sehr gutherzig geworden sind. Als ich jedoch hier eintraf, ist mir etwas Merkwürdiges begegnet…“ Dann erzählte der Nicht-Buddhist die Geschichte des Farmers. Er fand, der Farmer sei weder liebevoll noch barmherzig. Er hätte sich niemals vorstellen können, dass sich so etwas in einem buddhistischen Land ereignet.

Shakyamuni lächelte und erklärte ihm: “Es ist nicht unbedingt so, wie Du denkst. Du wolltest ein Verhalten sehen, das mit den Prinzipien der Menschenwelt übereinstimmt. Jedoch folgt das Dharma nicht den Gesetzen der Menschenwelt. Kultivierung bedeutet die menschliche Natur zu reinigen und sich der Wahrheit anzugleichen. Die Familie, die Du gesehen hast, lag nicht falsch. Man kann die fleischliche Haut nicht für immer bewahren. Wenn jemand stirbt, weinen alle laut um ihn. Was soll das Gutes für den Verstorbenen bewirken? Im Leben gibt es nun mal Geburt und Tod. Freude bei der Geburt und Traurigkeit beim Ableben eines Menschen zeigen die Verwirrungen in der irdischen Welt bezüglich Leben und Tod. Der Kreislauf von Leben und Tod hört niemals auf.“

Als der Nicht-Buddhist die Lehre des Buddhas vernahm, verstand er plötzlich. Von diesem Zeitpunkt an wurde er zu einem Buddhisten und ein fleißiger Mönch.

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