Kultivierungsgeschichte: Lily – die Lotusblume

Vor langer, langer Zeit wohnte einmal in einem Teich, der sehr weit weg gelegen war, ein Samenkorn namens Lily.
Das Samenkorn war scheu und furchtsam, doch spielte es gerne mit ihren Freunden und Freundinnen.
Aber Lily war in der letzten Zeit traurig geworden. Ihre Freunde und Freundinnen sprachen von einer wunderschönen Welt, die oberhalb der Oberfläche des Teichwassers existiert. Es hieß, dass in dieser Welt ein herrliches Licht alle Kreaturen beleuchtete, und dass sich ein türkis-und-blaufarbiger Himmel in alle Richtungen ausdehnte, bis zum Horizont.

Lily wünschte sich sehnlichst, die Schönheit dieses Lichts zu sehen, aber sie konnte nicht aus der Tiefe des trüben Wassers im Teich nach oben steigen. Manchmal machten ihre Freunde sogar Spaß mit ihr und sagten: "So typisch Lily – sie träumt wieder mal." Sie paukten ihr immer wieder ein, dass sie ihre Wunschträume von einer lieblicheren Welt aufgeben solle und sagten: "Dies hier ist Dein Zuhause Lily; warum musst Du immer nach etwas Besserem suchen?" Sie konnten sie einfach nicht verstehen. Freddy der Fisch, der Frechste und Gemeinste von allen, platzte bald vor lachen und animierte viele der anderen Fische im Teich, sie sollten Lily ärgern und sie mit Schimpfnamen rufen. Obwohl er nicht nett zu Lily war, hatte sie viel Geduld mit Freddy – sein Vater starb vor ein paar Monaten an der Angel eines Fischers. Lily verstand außerdem, dass nicht jeder denselben Traum im Leben träumt. Aber trotzdem sehnte sich Lilys Herz nach anderen Dingen.

Eines Tages, als Lily wieder einmal ihren Träumen nachhing, kam der alte Herr Schilf und sprach sie an, "Hallo, Lily." Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. "Ach, Du liebe Zeit, Du weinst ja! Darf ich fragen, was mit Dir los ist?" Lily hob ihr Gesicht und schaute Herrn Schilf an, der weit und breit im ganzen Teich als der weiseste und älteste Einwohner bekannt war. Sie weinte immer noch, während sie über ihre Traurigkeit sprach, dass sie so gerne die andere, helle Welt sehen möchte. "Lily, mein liebes Kind", sprach Herr Schilf, "das Leben hat Dich mit einem reifen Herzen gesegnet, das weit über Deine Jahre geht. Es ruft Dich, größeres zu vollbringen; obwohl Deine Augen es vielleicht nicht erkennen, sehnt sich Dein Herz nach anderen Dingen, das besser ist, als Deine wässrige Bleibe. Ich muss mich jetzt verabschieden, aber wenn ich zurückkomme, besuche ich Dich wieder!"

Ganz kurz danach eilte Freddy der Fisch vor ihr her. Lily sah, dass er schrecklich zornig war. Mit Absicht wühlte er den Sandboden am Teich auf, was das Wasser sogar noch trüber als sonst machte. Er war eifrig dabei, im Schlamm zu graben. Plötzlich klemmte er seinen Schwanz zwischen den Steinen am Boden ein und kam nicht mehr frei. Er plätscherte und schlängelte und bog sich hin und her, aber was er auch machte, er konnte sich nicht befreien. Freddy rief laut, "Hilfe, Hilfe!" Lily hörte seine Hilferufe. "Hilf mir", wiederholte er. Es schien, als ob sonst niemand in der Nähe war. Lily guckte sich um und sah in der Ferne ihren Freund Thomas die Schildkröte. Lily rief: "Thomas!" Er schwamm näher, um zu sehen was los ist.

"Thomas, ich bin so froh, dass Du da bist", sagte Lily. "Freddy ist zwischen den Steinen eingeklemmt und ich zweifelte, ob jemand meine Hilferufe hören kann." Thomas, ein verlässlicher Freund, aber die Schildkröte, die nicht viele Worte macht, schwamm sofort zu Freddy hinüber um zu sehen, wie er helfen konnte. Er platzierte sich hinter Freddy und drückte mit aller Macht. Mit seinem harten Panzer brachte Thomas es fertig, gerade die Steine so weit zu heben, dass sich Freddy frei machen konnte. "Danke Dir vielmals, Thomas", sagte Freddy. Wenn Lily und Du nicht gekommen wärt, hätte ich vielleicht die ganze Nacht zwischen den Steinen eingeklemmt verbringen müssen." "Gerne geschehen", sagte Thomas. "Es hat mich gefreut, Dir behilflich zu sein. Auf der anderen Seite möchte ich Dir aber ans Herz legen, dass Du jemand anderem etwas schuldest – Du warst sehr garstig zu Lily, Du solltest Dich bei ihr entschuldigen."

Thomas hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Freddy schwamm rüber zu Lily and entschuldigte sich für sein Benehmen. "Es tut mir wirklich Leid, Lily! Obwohl ich Dich oft auslachte und Dich beschimpfte, hast Du nie gleiches mit gleichem vergolten und heute hast Du mir mein Leben gerettet. Wie kann ich das je wieder gut machen?" Lily schaute in Freddys Augen und erkannte, dass er die Wahrheit sagte. "Freddy, ich habe die ganze Zeit gewusst, dass Du ein gutes Herz hast und jetzt ist es bestätigt. Können wir Freunde werden?" "Wenn Du mir vergeben kannst, Lily, möchte ich gerne Deine Freundschaft", sagte Freddy und lächelte.

Als der Schlamm im Teich sank und sich am Boden niederließ, waren Freddys Fisch-Schuppen auf einmal sauber. Lily sah etwas, was ihr vorher nie aufgefallen war. "Freddy, ich hatte bisher nicht gewusst, dass der Schlamm Deine wahre Persönlichkeit verheimlichte – jetzt wo dieser Dreck abgewaschen ist, bist Du ja ein herrlicher Goldfisch! Endlich hast Du wahre Farbe bekannt!" Lily konnte kaum glauben, was sie sah. Freddy war etwas verschüchtert, bedankte sich bei Lily und schwamm schnell weg, aber in der Überzeugung, dass Lily seinem Herzen Freude brachte.

Herr Schilf kam etwas später zurück. Lily erzählte ihm, was sich zugetragen hatte. "Lily, Du warst diejenige, die Ihr offenes Herz an einen anderen vergeben hat, um zu helfen, und damit er die Wahrheit erkennen kann. Dir wird dieselbe Gelegenheit geboten." Und er flüsterte, "Lily, darf ich Dir ein Geheimnis verraten?" "Oh, ja, bitte!" "Obwohl ich hier im Teich der älteste Einwohner bin, bin ich nicht der weiseste. Ein Schilfrohr kann die Welt über der Teichoberfläche zwar in Augenschein nehmen, und es ist wirklich eine wunderbare Welt! Es gibt so viele interessante Sachen zu sehen. Ich bin groß, aber trotz, dass ich schon zahlreiche Zyklen erlebt habe, bin ich davon überzeugt, dass die Lotusblume der weiseste Einwohner des Teiches ist.

Lily war überrascht und schaute Herrn Schilfs vertrautes Gesicht an. "Ich verstehe das nicht", sagte sie.
"Lily, Du bist jung, aber der rechte Zeitpunkt ist gekommen, dass Du dich streckst und dehnst, Dich erhebst nach oben greifst, damit Du endlich die volle Blüte erreichst, die das Schicksal Dir vorbestimmt hat."

Lily erhob sich langsam, bis ihre Augen endlich aus dem trüben Wasser ragten und sie sich an der neuen, leuchtenden Welt über dem Teichrand ergötzen konnte. Ihr Herz weinte vor Freue! "Endlich kann ich die Himmelsfarben sehen, all diese Schönheiten, die ich bisher nur in meinen Träumen sah. Hier, Herr Schilf, ist dieses Licht, nach dem ich mich so lange sehnte!"

Er freute sich mit Lily in seinem Herzen! Er bog sich etwas nach unten zu Lily und sprach: "Nie wieder werden Deine Augen vom schlammigen Teichwasser getrübt. Die Reinheit Deiner Natur hat Dir ein neues Leben geschenkt." Herr Schilf kam ein bisschen näher und flüsterte: "Lily, jetzt hast Du diese Welt über dem trüben Teichwasser gesehen, aber Du hast etwas vergessen, das wichtigste von allem!" Lily hörte seine lieben Worte. "Herr Schilf, ich kann jetzt so viele wundervolle Dinge sehen. Was könnte da sonst noch sein?" Er erwiderte mit einem sanften Lächeln: "Es ist nicht das, was Du von dieser Welt gesehen hast, sondern die Schönheit, in Du die Dich verwandelt hast, in die herrlichste Blume im Teich."

Lily drehte sich herum, um sich selbst anzuschauen. Sie hatte sich entfaltet und in eine prächtige Lotusblume verwandelt. Sie bemerkte auch, dass sich noch viele andere von der Tiefe des Teichbodens erhoben hatten und wie sie, sich zu herrlichen Lotusblumen entfaltet hatten. Ihr Traum, über den Teichrand hinwegsehen zu können, war endlich Wirklichkeit geworden. "Die Schönheit, die in Dir schlummerte und nach Reife verlangte ist das, was Dir erlaubte, über Deine Grenzen hinweg zu wachsen. Von jetzt an wirst Du sogar mehr als den Horizont erblicken", sagte Herr Schilf.

Lily begriff endlich. Sie schaute unter sich und verstand zum ersten Mal was das trübe Wasser im Teich bedeutete. Der Teich war ihr bisheriger Lebensraum, der es ihr ermöglichte, über sich selbst herauszuwachsen und ihr Herz und ihre Gedanken auf höhere Dinge zu setzen! Alles war nur eine Widerspiegelung dessen, was in ihr wuchs. Jetzt hatte sie endlich ihre wahren Augen gefunden, bzw. ihr wahres Herz, womit sie das endlose Firmament und die schönsten Himmelsdarstellungen erblicken konnte. Sie fühlte sich, als wenn sich ein neuer Tag entfaltete.

Lily wollte ihr Glück mit jedem der Teichbewohner teilen, so dass diese Lebewesen dieselbe Chance bekommen können, die wunderbare Welt außerhalb des Teiches zu erfahren und auf den Moment zu harren, wo alle Teichbewohner ihre guten Herzensabsichten ausstrahlen können.

Der Anfang…

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